Ostafrika 2

Teil 9: Äthiopien

Dingo in Schräglage. Unterwegs zum Omo-Fluss im Südwesten Äthiopiens.

"Bis zum kleinen Marktort Turmi bleibt die Piste ordentlich, doch danach ist sie streckenweise sehr ausgewaschen. Am späten Nachmittag des zweiten Tages rutscht dann ein Hinterrad des Toyota von Margaret und Marcel in einen Graben, und der hohe Schwerpunkt bringt das Fahrzeug beinahe zum Kippen. Nach einigen bangen Minuten steht der Toyota aber wieder sicher auf den 'Beinen', und die mühsame Fahrt kann weitergehen.

Am Abend suchen wir in einiger Entfernung eines kleinen Dorfes einen Übernachtungsplatz im Busch. Es dauert nicht lange, bis sich die ersten Eingeborenen bei unserem Camp einfinden. Es sind Wanderer, die dasselbe Ziel wie wir haben, nämlich den Wochenmarkt von Kai Affer. Im Gegensatz zu vielen anderen afrikanischen Völkern fürchten sich diese Menschen offenbar nicht vor der Dunkelheit. Fröhlich schwatzend legen sie grosse Distanzen zurück und ruhen sich dann bei aufkommender Müdigkeit irgendwo aus. Alle tragen sie deshalb ein schemelartiges Holzstück mit sich, das ihnen als Kopfkissen dient. Es ist uns schleierhaft, wie man mit derart stark angewinkeltem Genick auf dieser harten Unterlage schlafen kann, aber wir können uns mit eigenen Augen davon überzeugen, wie sie sich genüsslich auf diese „Kissen“ betten."

 

Beim Volk der Hamer im Südwesten Äthiopiens

 

René zieht auf den Wochenmärkten im Südwesten Äthiopiens die Aufmerksamkeit der Einheimischen auf sich

"Die Nacht verläuft ruhig, und auf der langsamen Weiterfahrt werden wir immer wieder von Frauen und Männern fröhlich gegrüsst, die uns von ihrem Besuch auf unserem Camp kennen. Es ist eine kleine Völkerwanderung, die über beträchtliche Distanzen dem Wochenmarkt zuströmt. Bei unserem Eintreffen ist der Marktplatz aber noch weitgehend leer. Die ankommenden Männer müssen sich nun von ihren geliebten Waffen trennen, da diese von den zahlreich anwesenden Soldaten sicherheitshalber eingesammelt und verwahrt werden. Da die meisten Marktbesucher Selbstversorger sind, ist das Warenangebot spärlich. Grosses Interesse finden die aus alten Autoreifen hergestellten Sandalen mit garantiert hoher Kilometerleistung, ansonsten scheint der Wochenmarkt hier vielmehr den Zweck eines gesellschaftlichen Anlasses zu erfüllen.

Ausser uns sind nur wenige andere Touristen anwesend. Wir ziehen uns in eine ruhige Ecke zurück und beobachten von dort das emsige Treiben. Für mich sind hier die Rollen allerdings vertauscht, da mein Rollstuhl die Aufmerksamkeit des heutigen Marktgeschehens auf sich zieht. Eine solche „Macchina" – wie sie meinen Rollstuhl zu nennen pflegen – haben diese Menschen offensichtlich noch nie zuvor gesehen, und dauernd bin ich deshalb von einer Traube Neugieriger umringt, denen ich immer wieder die Handhabung dieses seltsamen Gefährts vorführen muss. Gar helle Begeisterung kommt bei einer auf zwei Rädern vollführten Pirouette auf. Beim Wechseln meines Standplatzes kann ich mich jeweils einer grossen Gefolgschaft erfreuen, die jede Bewegung eifrig kommentiert und neu Dazugekommenen das bereits über diesen eigenartigen Fremden Erfahrene eifrig weitergibt. Natürlich wollen diese dann ebenfalls eine Darbietung vorgeführt bekommen. Es bereitet viel Spass, ihre von grossem Interesse geprägte Neugier zu befriedigen und ihre angeborene Heiterkeit zu entfachen. Bei dieser Gelegenheit kann ich, ohne mich als Voyeur fühlen zu müssen, die fremdartigen Menschen, ihre eigentümliche Bekleidung und Beschmückung oder ihre Schönheitsnarben auf Gesicht und Körper ebenfalls ungeniert aus nächster Nähe betrachten. Es ist ein gegenseitiges Bestaunen und Bewundern zweier Kulturen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten."

Portrait einer Hamer-Frau.

"Auch in Sachen Reiseproviant beschränken sich diese Menschen auf das Notwendigste, denn er besteht lediglich aus einem Topf mit Buttermilch sowie einer Kalebasse oder Plastikflasche mit etwas Trinkwasser. Der eindringliche Geruch der Buttermilch ist uns schon von Namibia her bekannt. Wie die dortigen Himba nutzen auch die Frauen der Hamer dieses Naturprodukt nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als reichlich auf den Körper und in die Haarpracht geschmierte Kosmetika. Die Hamer-Frauen erkennt man schon von weitem an ihren auffälligen, aus Butter und Lehm geformten Frisuren, die den schönen Kopf wie herabfallende Nudeln pilzkopfförmig umrahmen und selbst alten Frauen ein jugendliches Aussehen verleihen. Gekleidet sind sie noch häufig mit ihre Blösse nur dürftig bedeckenden Tierfellen. Wie die Massai- oder Samburu-Frauen in Kenia, tragen die Hamer ebenfalls schweren Schmuck aus Messing, Glasperlen oder Kaurimuscheln um Hals, Arme und Beine. Auch die Hamer-Männer sind in Sachen Bekleidung Minimalisten: Sie begnügen sich mit einem winzigen Tuch, das eng anliegend um die Hüfte gewickelt nichts anderes als ein knapper Minirock ist."

Auf dem Weg zu einem Mursi-Dorf im Mago-Nationalpark

Mursi-Frau mit Tellerlippen als Schönheitsmerkmal. Lange halten wir es hier nicht aus, denn die Dorfbevölkerung verhält sich äusserst aggressiv. Ein Besuch ist nur mit erfahrenem Führer zu empfehlen!

"Über einen sehr steilen Abstieg gelangen wir am folgenden Tag ein weiteres Mal auf den Grund des Ostafrikanischen Grabenbruchs und somit auch in den Mago-Nationalpark. Für einmal sind es aber nicht wilde Tiere, die uns in einen Park locken, sondern (wilde) Menschen. Am Unterlauf des Omo-Flusses leben die vor allem für ihre auffälligen Lippenteller bekannten Mursi. Eine schmale Fahrspur führt durch den dichten Busch, und hin und wieder huschen winzige Antilopen, kaum grösser als Feldhasen, durch das Gestrüpp. Wir sind nicht sicher, ob wir den richtigen Weg eingeschlagen haben. Als wir bereits erwägen, wieder umzudrehen, kommt uns ein Geländewagen entgegen. Der einheimische Fahrer mit einer deutschen Touristin an Bord erklärt uns die Richtung zu einem nahen Mursi-Dorf, das wir dann auch wenig später erreichen. Unsere kleine Karawane parkt auf dem Dorfplatz, und sogleich kommen die Bewohner herangestürmt: Splitternackte Kinder, Frauen mit wulstigen, weit herabhängenden Unterlippen, in die sie Tonteller von bis zu fünfzehn Zentimetern Durchmesser stülpen, sowie Männer mit Speeren und glänzenden Gewehren. Die Frauen bedrängen uns sogleich, kneifen in unsere Arme, zeigen auf ihre schwabbelnden, entstellten Lippen und lispeln: „Foto, Foto!“. Die aufgeschnittenen Lippen bereiten den Frauen beim Artikulieren sichtlich Mühe. Es ist schwer zu verstehen, wie diese Entstellung als ein Schönheitssymbol gelten kann. Schon bei Erreichen der Pubertät wird den jungen Mädchen die Unterlippe aufgeschlitzt, um eine kleine Tonscheibe einzusetzen. In den nächsten Jahren dehnen immer grössere Scheiben die Unterlippen. Im heiratsfähigen Alter entscheidet die Grösse des Tontellers über den Brautpreis: Je grösser der Teller, desto mehr Rinder muss der Bräutigam für seine Braut bezahlen.

Vielleicht hatten wir mit dem Besuch dieses Dorfes auf eine ähnlich positive Erfahrung gehofft wie bei den Massai in Kenia. Nun müssen wir aber erkennen, dass uns diese Menschen nicht als ihre Gäste betrachten, sondern einzig als Fremde, denen man mit allen Mitteln möglichst viel Geld abknöpfen will. Die Frauen starren aus blutunterlaufenen Augen, kneifen, drängen und schubsen mich, derweilen die wulstigen, herabhängenden Unterlippen wenige Zentimeter vor mir herumschwabbeln. Es ist wie in einem Horrorfilm!

Auch unsere Reisegefährten haben ihre liebe Mühe, und einer nach dem anderen flieht in sein von der stechenden Sonne aufgeheiztes Fahrzeug. Nur gibt es jetzt wieder ein neues Problem: Die Männer der Sippe haben eine von uns zuvor unbemerkte Schranke verriegelt. Wir sind auf dem Dorfplatz eingeschlossen! Einige von ihnen sitzen nun, die Kalaschnikows demonstrativ positioniert, auf dem massiven Holzbalken. Natürlich wollen sie Geld, und zwar eine ansehnliche Summe pro Fahrzeug. Hermann, der zuvorderst an der Schranke steht, versucht den Preis herunterzuhandeln, was ihm massive Bedrohungen mit Stöcken und Speeren durchs offene Wagenfenster einbringt. Er lässt sich aber nicht einschüchtern und setzt die Verhandlungen unbeirrt fort. Nun beginnen sich die Männer infolge irgendwelcher Meinungsverschiedenheiten gegenseitig zu verprügeln. Die Situation wird zunehmend unangenehmer, zumal uns auch die Frauen immer noch aggressiv bedrängen, uns etwas verkaufen oder von uns fotografiert werden wollen. Die Lust am Fotografieren ist uns indessen schon längst vergangen. Endlich ist eine Einigung erzielt, und unsere Kolonne darf nach der Entrichtung des ausgehandelten „Eintrittspreises“ passieren – nur weg von hier!"

Tellerlippen-Frauen mit dem Statussymbol ihrer Männer

"Für alle Männer der verschiedenen Völkergruppen dieser Region ist der Besitz einer Schusswaffe, vorzugsweise einer Kalaschnikow, das erstrebenswerteste Statussymbol. Es ist deshalb schon etwas gewohnheitsbedürftig, immer wieder halbnackten Männern mit umgehängten automatischen Gewehren zu begegnen. Den Fremden gegenüber erweisen sie sich aber als sehr freundlich und oft humorvoll. Das ist unter den hier ansässigen Volksgruppen allerdings nicht immer so. Auch heute noch kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen unter den zahlreichen Ethnien. Das Töten von Grosswild und auch von Menschen hat Tradition und bringt dem Mann Ruhm, Ehre und Prestige. Dieser Erwerb von Würde ist durch strenge Zeremonien reguliert. Die Ruhmestaten werden dann durch Abzeichen anschaulich vermittelt. Das kann ein besonderer Haartuff oder Stirnschmuck, können Armreifen oder Tätowierungen sein. Wahrscheinlich schon seit Urzeiten wurden jährliche rituelle Kriegszüge gegen andere Volksgruppen der Gegend durchgeführt. Nicht zuletzt dank diesen Kämpfen hat sich aber das bunte Völkermosaik dieser Region erhalten können und einen dominierenden Volksstamm verhindert. Heute geht es bei diesen Auseinandersetzungen aber vermehrt auch um profanere Dinge wie Weiderechte oder Viehdiebstahl."

Abendstimmung am Omo-Fluss

"Gemäss den Angaben des Parkpersonals sollte die südliche Ausfahrt des Nationalparks in gutem Zustand sein. Tatsächlich wurde der Busch entlang des Fahrweges erst kürzlich gesäubert, was am nächsten Morgen ein Fahren ohne ständiges Schaben und Kratzen durch Äste an der Karosserie ermöglicht. Manchmal öffnet sich der dichte Busch zur offenen Savanne, welche andernorts ideale Bedingungen für eine reiche afrikanische Fauna bieten würde. Unsere Tiersichtungen beschränken sich aber auf einige weitere Antilopen. Die Grenze des Nationalparks befindet sich dort, wo die Unterhaltsarbeiten enden. Nun ist Fährtenlesen angesagt, denn hier ist seit Monaten oder gar Jahren kein Fahrzeug mehr gefahren. Die wenigen, alten Spuren verlieren sich alle im undurchdringlichen Busch. Angestrengt suchen wir nach einer Durchfahrt, müssen aber immer wieder kapitulieren.

Am Ende geben wir auf und holpern vierzig Kilometer zurück zu einer Weggabelung, wo wir in Richtung Omo-Fluss abbiegen. Die Fahrspur ist fast völlig zugewachsen, mit riesigen Löchern und tiefen Reifenspuren einstiger Schlammschlachten durchsetzt. Wir fahren frontal gegen die untergehende Sonne und können deshalb kaum etwas sehen. Der Schweiss fliesst in Strömen. Müde und durstig beschliessen wir, an einer offenen Stelle zu campen und dann zu beratschlagen, ob wir morgen wieder denselben Weg über Jinka zurückfahren sollen. Hermann will sich mit dem wendigen Volkswagen aber noch auf die Suche nach dem an der Weggabelung angekündigten, gemäss zurückgelegter Distanz jedoch schon längst überfälligen Dorf machen. Keine zwei Minuten nach seiner Wegfahrt steht er schon wieder da: „Gleich da vorne gibt es einen idealen Übernachtungsplatz mit Blick auf den Fluss, und den Spuren nach zu schliessen, muss das Dorf auch in der Nähe sein,“ erklärt er.

Nach wenigen Hundert Metern öffnet sich der Busch und unerwartet spiegelt sich die versinkende Sonne als golden leuchtende Scheibe im Wasserlauf des Omo-Flusses. Die ersten Eingeborenen vom Stamm der Karo lassen auch nicht lange auf sich warten, und erleichtert hören wir, dieser kaum befahrene Weg führe nach Turmi, unserem schon lange angepeilten Ziel. Den ganzen Tag waren wir unterwegs, ohne ein einziges anderes Fahrzeug zu sehen, und der Junge mit den beiden barbusigen Frauen, die sich als besonderen Gesichtsschmuck einen langen Nagel durch die Unterlippe gestossen haben, sind die ersten Eingeborenen, die wir seit dem Verlassen des Camps heute Morgen antreffen."

Marktbesuch in Bati - beobachten und beobachtet werden

"Am Montag erreichen wir nach einer zweistündigen Fahrt durch ein beschauliches Tal und über eine weitere gut ausgebaute Passstrasse den Marktort Bati, der auch einer der hiesigen Biersorten ihren Namen gegeben hat. Ob der dem Markt zustrebenden Menschenmassen platzt das Dorf aus allen Nähten. Ein Junge führt uns zum Marktplatz und hilft dabei, einen Weg durch das Gewimmel von Mensch und Tier zu bahnen, bis ein winziger, noch nicht belegter Platz gefunden ist, von wo wir das bunte Gewusel beobachten können. Auch hier ist das Warenangebot dürftig und beschränkt sich im Wesentlichen auf Tierhäute sowie dem zum Leben Allernotwendigsten. Wir sind aber vor allem der Marktbesucher wegen gekommen, denn wie schon bei den anderen äthiopischen Wochenmärkten begegnet man auch hier einer grossen ethnischen Vielfalt. Die interessanteste Volksgruppe sind die „Afar" vom Volk der Somali. Sie haben den weiten, beschwerlichen Weg von einer der lebensfeindlichsten Gegenden, der Danakil-Ebene, bis hierher hinter sich gebracht. Die „Afar" gehören zu den stolzen undunbeherrschbaren Völkern in diesem Teil Afrikas, die sich seit jeher wenig um Staatlichkeiten kümmerten. Die Afar-Männer mit ihrer wuchernden Haartracht, ihren weiss blitzenden Zähnen und den Krummdolchen trifft man vor allem auf dem Viehmarkt an, wo sie ihre Kamele feilbieten. Von den „Afar" wird berichtet, sie hätten bis in die jüngere Vergangenheit die abgeschnittenen und getrockneten Genitalien eines Feindes vorweisen müssen, um erst als heiratsfähig zu gelten."

Äthiopien - das Dach Afrikas

"Am folgenden Morgen gilt es dann von unseren neuen Freunden Abschied zu nehmen. Als Wegzehrung lässt uns Louis aber zuvor noch fünf Karton Bier – das sind 120 Flaschen – in unsere Fahrzeuge laden. Noch ein letztes Zuwinken, und schon winden wir uns einen weiteren Berg hinauf. In Weldiya verlassen wir die Teerstrasse und erklimmen auf einer staubigen, von den Chinesen jedoch gut ausgebauten Piste ein 3’500 Meter hoch gelegenes Plateau. Auf kunstvoll angelegten Terrassenfeldern schimmern winzige Ebenen grün und golden in der Sonne und breiten sich als bunter Flickenteppich über die steilen Berghänge bis in höchste Lagen aus."

Typisches Dorf in traditioneller Bauweise im Hochland Äthiopiens

Auch als 8. Weltwunder betitelt: Gyorgis Kirche in Lalibela

"Unser Ziel sind die oft als Achtes Weltwunder bezeichneten Monolithkirchen von Lalibela. Dort angekommen, müssen wir uns einmal mehr nicht auf die Suche nach einem Führer machen, sondern uns vielmehr ihrer erwehren. Schliesslich bestimmen wir einen und engagieren zudem noch einen jungen Mann als Helfer, da ich die einzigartige Gyorgis-Kirche unbedingt auch von innen sehen will.

Von der Strasse aus sieht man vorerst einmal nichts. Erst beim genaueren Hinschauen entdecken wir den kreuzförmigen Felsblock im leichten Gefälle des Berges. Am Abbruch angekommen, blicken wir auf eine zu unseren Füssen liegende, drei Stockwerke hohe, kreuzförmig aus dem Tuffstein gemeisselte Kirche. In der Umgebung, im selben Berg und für uns nicht sichtbar, gibt es noch zehn weitere derart aus dem Fels gehauene Kirchen, und alle sind sie durch unterirdische Gänge miteinander verbunden. Diese architektonische Glanzleistung geht auf den Heiligen Lalibela, König der Amharen, zurück. Die Amharen waren – und sind immer noch – Christen des östlichen Ritus. Lalibela liess diese Kirchen im 12. Jahrhundert aus dem Berg hauen, damit die in jenen Zeiten regelmässig über diese Landstriche herfallenden Moslems sie aus der Ferne nicht sehen konnten. Und selbst wenn sie die Kirchen entdeckten, konnten die Moslems ihnen nichts anhaben, da sie ja einen Bestandteil des Berges bildeten."

"Nachdem wir die Kirche gebührend von allen Seiten bestaunt haben, wollen wir uns an den Abstieg machen. Nun will der Führer aber plötzlich nichts mehr davon wissen. „Unmöglich, mit dem Rollstuhl da runter zu kommen,“ wehrt er ab. Da sind wir allerdings anderer Meinung, und nachdem wir noch einen zweiten Träger angemietet haben, kann es losgehen. In einer engen, keilförmig tief aus dem Felsen gehauenen Rinne steigen wir langsam hinab, und nachdem auch noch ein kurzer Tunnel durchquert ist, stehen wir auf dem Grund der Kirche. Nun entbrennt eine Diskussion mit dem Priester, ob ich mit dem Rollstuhl das Innere der Kirche „betreten“ dürfe, da das üblicherweise nur mit ausgezogenen Schuhen erlaubt ist. In meinem Fall geht es dabei wieder einmal um die fundamentale Frage, ob Rollstuhlreifen nun Schuhe sind, oder nicht. Es dürfte wohl auch das erste Mal in der annähernd tausendjährigen Geschichte Lalibelas sein, dass sich eine Geistlichkeit mit einem derartigen Problem auseinandersetzen muss. Am Ende wird aber gegen den Rollstuhl entschieden, und so lasse ich mich barfüssig von den beiden Männern zum Priester tragen, wo ein Stuhl für mich bereitsteht. Nun ist auch für den in ein weites, weisses Gewand gekleideten Geistlichen die Welt wieder in Ordnung, und lächelnd streckt er mir das goldene Kreuz entgegen. In aller Ruhe kann ich nun die schlichte Monumentalität dieses einzigartigen Bauwerks bewundern und die spezielle Aura in mich aufnehmen.

Über dieselben hohen Treppenstufen arbeiten wir uns nachher wieder nach oben, wo dann eine unschöne Feilscherei um den Trägerlohn beginnt, obwohl wir zum vorneherein festgelegten, fürstlichen Entgelt auch noch ein stattliches Trinkgeld dazugelegt haben. Dieser Umstand lässt mich auf den Besuch der anderen, zudem noch schwerer zu erreichenden Felsenkirchen verzichten. Ich kann mich auch damit trösten, in den kommenden Tagen noch andere an unserer Reiseroute liegende altäthiopische Bauwerke besichtigen zu können."

Vor 1'000 Jahren aus dem Stein gehauen: Detailansicht der Monolith-Kirchen in Lalibela

 

Bibelstudium in Lalibela

 

 

Von Rollstuhlgängigkeit kann in Lalibela verständlicherweise keine Rede sein. Mit freiwilliger Hilfe darf allerdings auch nicht gerechnet werden - die muss bezahlt werden. Den Lohn für die Trägerarbeit unbedingt vorher abmachen. 

"In Bahir Dar überqueren wir erstmals den noch jungen Nil und können wenig später unsere Autos beim Hotel „Ghion“ direkt ans Seeufer stellen. Die ersten sich für einen Besuch der Inseln anpreisenden Führer lassen auch hier nicht lange auf sich warten. Wir sind uns schnell handelseinig, und alsbald klettern wir in das gedeckte Ausflugsboot des Hotels. Ein kräftiger Gegenwind türmt die Wellen zu beachtlicher Grösse auf, und schon nach wenigen Minuten sind wir bis auf die Haut durchnässt. Schwer mit auf den Inseln erzeugten Handelswaren beladene und dadurch tief im Wasser liegende Papyrusboote kreuzen unseren Weg. Es sind Boote, wie sie schon die alten Ägypter in ähnlicher Form gebaut und verwendet hatten.

Unser Kapitän steuert nun auf eine Untiefe zu, wo sich eine grosse Kolonie weisser Pelikane niedergelassen hat. Nach zwei Stunden Fahrt erreichen wir schliesslich die Halbinsel Zeghie. Das in der Sonne reflektierende Dach der auf einem Hügel liegenden Klosterkirche schimmert schon von weitem durch den dichten Wald. Einmal mehr erweist sich die Wegbeschreibung eines Führers als sehr optimistisch, denn der „kurze und einfach zu bewältigende Weg“ ist ein steiler, über Felsbrocken, Geröll und Wurzeln führender Pfad. Unter der an der Anlegestelle versammelten Menge befinden sich aber genügend junge, kräftige Burschen, die sogleich, noch bevor ein Lohn ausgehandelt ist, den Rollstuhl packen und mich über Stock und Stein davontragen.

Die anfangs des 17. Jahrhunderts gegründete Klosterfestung weist eine runde Form auf. Nachdem der mit einer Flinte bewaffnete Priester die massive Holztüre geöffnet hat, treten wir in einen dunklen, die Kirche umrundenden Gang ein. In leuchtenden Farben lebendig dargestellte Malereien mit Szenen aus der Bibel bedecken die innere, das Allerheiligste ummauernde Wand. Unser Führer ereifert sich nun mit überschwänglichen Erklärungen über die einzelnen Handlungen oder der verschiedenen Heiligen. Viel zu schnell verstreicht die Zeit, und schon bald muss an den weiten Rückweg gedacht werden. Von denselben hilfreichen Händen getragen, komme ich wohlbehalten wieder am Anlegesteg an, wo wir uns auf eine langwierige Feilscherei für den Helferlohn gefasst machen. Doch es geschehen wirklich noch Zeichen und Wunder: Die Burschen verzichten auf einen Lohn, und ein Trinkgeld muss ihnen richtiggehend aufgedrängt werden."

Schwieriger Landgang auf der Insel

 

 

Beschwerlicher Aufstieg auf der Halbinsel Zeghie, Tana-See

"Eine weitere Sehenswürdigkeit der bewegten äthiopischen Vergangenheit liegt eine staubige Tagesreise vom Tana-See entfernt: die alte Kaiserstadt Gondar. Kaiser Fasilidas begann hier 1636 eine Residenz zu bauen, und auch die nachfolgenden Kaiser und Kaiserinnen fügten dem von einer starken Umfassungsmauer umgebenen Palastbezirk Bauwerk um Bauwerk hinzu. Die wenigen Reisenden, die Gondar zu jener Zeit besuchten, waren von dieser Anlage und der prunkvollen, jener der europäischen Potentaten in nichts nachstehenden Hofhaltung sehr beeindruckt. In Europa schenkte man den Beschreibungen jedoch wenig Glauben, da so etwas in Afrika schlicht undenkbar war. Die Bauweise der Paläste erinnert tatsächlich sehr an europäische Burgen des Mittelalters. Wahrscheinlich haben die Portugiesen einen gewissen Einfluss ausgeübt, aber auch indische Baumeister sollen an der Ausführung beteiligt gewesen sein. In der weiträumigen Anlage können wir nach Lust und Laune auf Entdeckungsreise in die Vergangenheit gehen und die Gemäuer der meist gut erhaltenen Paläste und Kirchen oder der Bibliothek erforschen. Dank der erhöhten Lage hat man von hier einen schönen Ausblick auf die Dächer des neuen Gondar und die umliegenden Berge."

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